Von der Morgenröte zum Mythos: Die wahre Geschichte von Ostara



Wie der Mythos um Ostara entstand – Eine Reise durch Irrtum, Romantik und Ideologie

Unsere Reise beginnt im frühen Mittelalter, bei einem Gelehrten namens Beda Venerabilis (ca. 673–735). In seinem Werk De temporum ratione („Über den Umgang mit der Zeit“) schilderte Beda die alten Monatsnamen der Angelsachsen. Einige dieser Namen leiteten sich von Wetterphänomenen oder Alltagstätigkeiten ab:

  • Solmōnaþ (Februar) – „Schlammmonat“, wegen des nassen Bodens,

  • Þrimilcemōnaþ (Mai) – „Dreimal-Melkmonat“, weil Kühe nun dreimal täglich Milch gaben,

  • Blōtmōnaþ (November) – „Blutmonat“, in dem Tiere für den Winter geschlachtet wurden.

Doch beim Ēosturmōnaþ (April) wurde Beda unsicher. Er konnte keinen praktischen Grund für diesen Monatsnamen finden. Stattdessen vermutete er, dass es sich auf eine Göttin namens Ēostre beziehe, die früher in dieser Zeit verehrt worden sei. Doch Beda musste einräumen: Über Rituale oder Mythen dieser Göttin wusste er nichts. Ihre Verehrung schien schon lange vergessen.

Fun Fact:

Beda ist die einzige historische Quelle, die Ēostre überhaupt erwähnt. Kein anderer Text, keine Runeninschrift, kein archäologischer Fund bestätigt je ihre Existenz! Heute gehen Sprachwissenschaftler davon aus: Ēostre hängt sprachlich mit der indoeuropäischen Wurzel für „Morgenröte“ zusammen – verwandt mit lateinisch aurora und griechisch ēōs.
Wahrscheinlich war also der April einfach der Monat des wachsenden Lichts, des Frühlings, der Morgendämmerung – und nicht der Monat einer Göttin.

 


Die Wiedergeburt der Ostara – Jakob Grimm und die Romantik

Mehr als tausend Jahre später, im 19. Jahrhundert, griff Jakob Grimm die vergessene Ostara auf.

In seiner Deutschen Mythologie (1835) wollte Grimm die germanische Vorzeit rekonstruieren, eine eigene, stolze Götterwelt für das deutsche Volk erschaffen – analog zu den Griechen und Römern.
Dabei stützte er sich auf Beda, interpretierte die Erwähnung der Ēostre als Beweis für eine Frühlingsgöttin und nannte sie „Ostara“.

Grimm deutete sprachliche Parallelen zur Morgenröte und schuf so das Bild einer blühenden, lebensspendenden Göttin.
Doch auch er wusste: Es fehlten die Belege. Keine Rituale, keine altgermanischen Texte, keine Tempel oder Bildnisse.

Fun Fact:

Jakob Grimm selbst schrieb, dass seine Theorien spekulativ seien! Trotzdem wurden sie populär – bis heute feiern viele Neuheiden Ostara, ohne zu wissen, dass es sich um eine Erfindung handelt. Grimms Ostara war letztlich ein romantisches Konstrukt, geboren aus der Sehnsucht nach einer eigenständigen, deutschen Mythenwelt.

 


Ostara im Dienst des Rassismus – Jörg Lanz von Liebenfels

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhielt Ostara eine düstere Wendung.
Der österreichische Esoteriker und Rassist Jörg Lanz von Liebenfels benannte seine völkisch-rassistischen Schriften „Ostara – Briefbücherei der Blonden und Mannesrechtler“.

Lanz verquickte Bibelinterpretationen, Atlantis-Mythen, Esoterik und extreme Rassentheorien zu einer wirren Ideologie:
Er glaubte an eine blonde „Herrenrasse“, die von „dunklen Dämonenwesen“ bedroht sei.

Warum der Name Ostara?
Er klang altgermanisch, rein und ursprünglich – perfekt, um seine rassistische Fantasie zu bemänteln.

Fun Fact: 

Lanz behauptete, Atlantis sei die Heimat der „blonden Arier“ gewesen. Ostara sollte die spirituelle Führerin dieser Rasse sein! Mit seinen „Ostara“-Heften verbreitete Lanz ab 1905 eine Mischung aus Rassenwahn, Pseudowissenschaft und germanischem Mystizismus.

 

 


Hitler, Ostara und die Erfindung einer „alten Tradition“

Der Psychologe Wilfried Daim behauptete später, Adolf Hitler habe als junger Mann die Ostara-Hefte gelesen und sei stark beeinflusst worden.
Der Historiker Nicholas Goodrick-Clarke zeigte jedoch: Einen direkten Beweis dafür gibt es nicht. Aber die Ideen von Lanz und anderen völkischen Autoren prägten das ideologische Klima jener Zeit.

Für die Nationalsozialisten war die Erfindung alter Mythen überlebenswichtig:
Man wollte eine uralte, reine, „germanische Kultur“ erschaffen, die älter und mächtiger erschien als das Christentum oder die römische Tradition.

Ostara, als Frühlings- und Lichtgöttin, wurde zum Symbol für das „neue Erwachen“ des deutschen Volkes.

Fun Fact: 

Im Dritten Reich feierten die SS und andere NS-Organisationen Frühlingsfeste zu Ehren von „Ostara“ – obwohl man wusste, dass diese Göttin historisch nie existiert hatte!


Die Wahrheit: Ostara ist ein Mythos aus Missverständnissen

Tatsächlich taucht Ostara in keiner einzigen altgermanischen Quelle auf:

  • Nicht in der Edda,

  • Nicht auf Runensteinen,

  • Nicht in den Merseburger Zaubersprüchen,

  • Nicht auf archäologischen Funden.

Beda nannte sie ein einziges Mal – und vermutlich irrte er sich.
Was als poetisches Bild der Morgenröte begann, wurde von Romantikern verklärt, von Ideologen pervertiert und von Nationalisten als Propagandawaffe missbraucht.

                     

✨ Fazit:

Der Mythos Ostara zeigt, wie Sprachmissverständnisse, romantische Sehnsüchte und politische Ideologien ein einfaches Naturbild in eine mächtige, aber gefährliche Legende verwandeln konnten.


Timeline der wichtigsten Ereignisse

Zeit Ereignis
8. Jh. Beda erwähnt Ēostre als Göttin – einzige historische Quelle.
1835 Jakob Grimm erschafft Ostara als Frühlingsgöttin (romantische Konstruktion).
1905 Jörg Lanz von Liebenfels veröffentlicht die rassistischen Ostara-Hefte.
1920–1945 Ostara wird Teil der NS-Ideologie über „germanische“ Frühlingsfeste.
Heute Ostara wird in Neuheiden-Gruppen gefeiert – meist ohne Wissen um den Ursprung.

Wichtigste Stichpunkte:

  • Beda Venerabilis erwähnte einmal Ēostre, wusste aber nichts Näheres.

  • Moderne Sprachwissenschaft zeigt: Ēostre bedeutet wahrscheinlich „Morgenröte“.

  • Jakob Grimm erfand im 19. Jahrhundert die Ostara-Göttin aus romantischer Sehnsucht.

  • Jörg Lanz von Liebenfels nutzte „Ostara“ für rassistische Propaganda.

  • Nationalsozialisten instrumentalisierten Ostara, obwohl keine echte Tradition existierte.

  • Kein einziger archäologischer oder schriftlicher Beleg bestätigt Ostaras Verehrung.

  • Ostara heute: Immer noch ein beliebtes Fest in Neuheidentum – auf Basis eines romantischen Mythos.